Samstag

image001Anreisetag – Der Samstag beginnt für die meisten Teilnehmer*innen sehr früh, die Anreise per Zug zieht sich über einige Stunden. Wir fahren nach Plesná, eine einstige Hochburg der Textilindustrie an der deutsch-tschechischen Grenze. Da seit einigen Jahren das Kleiderimportgeschäft aus China boomt, stehen die Fabriken hier allerdings still. Wir, das sind die Teilnehmer*innen und Leiter*innen des deutsch-tschechischen Theaterprojektes Textory, wollen uns mit dem Thema Kleidung beschäftigen. Da scheint Plesná der ideale Ort zu sein. Das Projekt wird organisiert vom Čojč Theaternetzwerk Böhmen-Bayern, einer Organisation, die Theater zwischen den Sprachen macht: Sowohl tschechische als auch deutsche Teilnehmer*innen sind willkommen.

Wir treffen also in dieser „Stadt“ ein. Es gibt nur ein Gleis und „so etwas ähnliches wie einen Bahnsteig“ (Zitat einer Teilnehmerin). Dort erwarten uns auch schon die Leiter*innen und bringen uns zu unserer Unterkunft für die Woche. Wir schlafen in einem verlassenen Schulgebäude. Nach dem Niedergang von Plesnás Fabriken verließ ein großer Teil der Anwohner*innen die Stadt, viele Gebäude stehen seitdem leer. In einem Klassenzimmer ist noch die Tafelanschrift von damals zu lesen, der Garten ist verwildert und auch innen hat es bestimmt schon einmal bessere Tage gesehen, für unsere Zwecke ist es aber ideal.
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Wir proben in der kleinen Turnhalle der Schule. Dort beginnen wir mit Kennenlernspielen unterschiedlichster Art und bekommen den ersten von vielen tschechisch-deutsch-Kursen. „Tričko“ (Tschechisch für T-Shirt) wird zum Lieblingswort der deutschen Teilnehmer*innen. Dann begeben wir uns zum ersten Mal in dieser Woche in die Stadt, zu einem kleinen Rundgang. Auf dem Weg durch die (größtenteils leeren) Straßen geht’s weiter mit dem Kennenlernen, die Kommunikation funktioniert dabei erstaunlich gut. Die tschechischen Teilnehmer*innen verfügen alle zumindest über grundlegende Deutschkenntnisse, die Sprache ist hier oft Schulfach. Das Highlight der Wanderung ist eine verlassene Fabrik, an der wir mit den ersten Theaterästhetiken experimentieren. Die alte Laderampe dient uns dabei als Bühne.

Geschafft von dem langen Spaziergang freuen wir uns alle auf das Abendessen im benachbarten Restaurant, das uns die ganze Woche über versorgen soll. Der Gastgeber und Koch, Kuba, kümmert sich hinreißend um uns. Nach dem Abendessen noch einige Übungen und dann lassen wir den Tag mit einem Lied ausklingen.

Sonntag

image005Um 7:30 Uhr stehen wir alle bereit für das Morgentraining (Wobei sich dieser Begriff fast etwas zu sportlich anhört). Unsere Tage beginnen alle sehr früh und enden sehr spät, von 7:30 bis 21:00 erstreckt sich das Tagesprogramm, natürlich unterbrochen von vielen Pausen, die Kuba allesamt mit Essen füllt.

image007Nach dem Frühstück machen wir uns wieder auf in die Stadt, Erkundungsrundgang. Noch immer sind die Straßen leer, dafür stellen wir etwas anderes fest: In Plesná scheint es eine ungewöhnlich hohe Dichte an Hundebesitzern zu geben. Aus nahezu jedem Garten bellt es. Ansonsten sehen wir viele alte und verlassene Gebäude, unfertige Baustellen und unzählige Fabriken. In Betrieb scheinen sie gerade nicht zu sein. Nachdem wir alle unsere Eindrücke teilen, wird es Zeit für den ersten künstlerischen Block der Woche. Wir schnappen uns unser Heftchen und verteilen uns auf interessante Orte, die wir in der Stadt gefunden haben. Dort lassen wir einfach mal die Kreativität fließen und schreiben drauf los, was auch immer uns in den Sinn kommt. Später präsentieren wir uns diese Texte in einer theatralen Form. Die meisten handeln von Stille und vom Alleinsein. Außerdem lernen wir wieder etwas Tschechisch, „Tričko“ als Lieblingsausdruck zu ersetzen, gelingt jedoch keinem Wort.

image009Am Nachmittag treffen wir zwei ehemalige Fabrikarbeiterinnen, die uns von der goldenen Zeit Plesnás erzählen. In ihrer Fabrik stellten die Damen vorrangig Jogginghosen und -jacken her. Vor noch gar nicht so langer Zeit war es hier Gang und Gäbe, die Färbemittel der Fabrik in den Fluss zu kippen, der nahm dann immer jeweils die Farbe an, die in der Fabrik an diesem Tag eben gerade verwendet wurde. Verrückt. Auch Informationen aus diesem Gespräch verpacken wir in Theaterszenen. Dabei entsteht die inoffizielle Hymne der Woche: „Wir schneiden, wir schneiden. Já řežu, Já řežu.“

Montag

image011Am Montag werden wir vom Bürgermeister versetzt, er hatte sich für diesen Tag wohl einfach etwas zu viel vorgenommen. Pflichtbewusst holt er seinen Besuch bei uns aber schon am nächsten Tag nach. Genug zu tun haben wir heute trotzdem.

Wir beginnen den Tag mit einem großen Blatt, auf dem verschiedene Schnittmuster für Kleidungsstücke abgebildet sind. Diese übersetzen wir in Laufwege, denen wir auf der Bühne folgen. Später beschäftigen wir uns mit den Textilien selbst. Einige höchst elegante Modenschauen und eine Kontaktimprovisation mit der Kleidung später haben wir alle ein neues Gefühl für den Stoff entwickelt.

Das Thema Textil geht natürlich tiefer, also tauchen wir am Nachmittag durch diverse Reportagen und Dokus auch tiefer ein. Die nachfolgende Diskussion wirft einige interessante Fragen zum Thema „Ethik der Kleidung auf“. Ist es vertretbar, Kleidung aus Kinderarbeit zu kaufen? Und wenn sie aus zweiter Hand kommt? Wir finden keine endgültigen Antworten, zum Nachdenken regt das Thema aber allemal an. Wie schon des Öfteren in dieser Woche verarbeiten wir auch diese Erfahrungen wieder in Bühnenszenen. So zum Beispiel im „Weg der Kleidung“, eine kurze Szene, die lediglich mit zwei Oberteilen als Requisiten die Kleidung von ihrer Produktionsstätte bis in den Laden und weiterverfolgt.

Dienstag

image013Diesmal ist es soweit! Plesnás Bürgermeister spricht mit uns und gibt weitere Einblicke in die Geschichte (und mögliche Zukunft) der Stadt. Er präsentiert sich lässig im T-Shirt (Tričko) und scherzt mit uns, auch er spricht Deutsch. Alles in allem macht er nicht den Eindruck eines klassischen Politikers. image015 Danach tauchen wir tief in die Szenenarbeit ein. In zwei Gruppen besuchen wir verschiedene Fabriken in der Stadt und konzipieren am Standort neue Szenen, aufbauend auf dem Material, das wir bisher gesammelt haben. Heraus kommen dabei unter anderem ein Klangbild, das aus den Tönen der Fabrik besteht und ein Monolog aus der Sicht einer fiktiven Fabrikarbeiterin. Die Hitze (Temperaturen deutlich über 30 Grad waren in der Woche keine Seltenheit!) treibt uns aber schnell wieder in die kühle Schule. Unsere Arbeit ist aber noch nicht vorbei, wir beschäftigen uns noch mit einigen historischen Dokumenten und versuchen, das Thema „Einsamkeit“ in Texten festzuhalten.

Am Abend bekommen wir von der Kulturbeauftragten der Stadt eine Tasche überreicht, in der sich einige original in Plesná genähte Kleidungsstücke befinden. Alle bestehen aus Joggingstoff. Obwohl die Jacken vor vielen Jahren genäht wurden, sind sie noch immer weich, wie am ersten Tag. Sie wirken wertig und gut verarbeitet und irgendwie ganz anders als die Kleidung, die wir sonst so tragen.

Mittwoch

image017Der Tag heute beginnt früh. Und intensiv. Wir haben den Schlüssel zu einer verlassenen Fabrik erhalten und dürfen in ihrem Innenhof proben und aufführen. Noch vor dem Frühstück machen wir uns dorthin auf und proben ein paar klassische Theaterübungen. Die Aufführung naht, also gibt es heute nicht mehr so viel Szenenarbeit. Nur einige historische Fotos stellen wir noch nach, ansonsten konzentrieren wir uns auf die Verbesserung bereits etablierter Szenen.

image019Außerdem üben wir uns in Körperspannung und Bühnenpräsenz und bekommen noch einmal einen ausführlichen tschechisch-deutsch-Kurs, heute sind die Farben dran. Die deutliche Aussprache der neuen Vokabeln üben wir mittels Schnurtelefon. Mittlerweile können sich auch die deutschen Teilnehmer*innen den tschechischen mitteilen, zumindest sehr rudimentär (Der Wortschatz umfasst unter anderem Begrüßungen, Die Farben, einige Kleidungsstücke, einfache Fragen, wie „Wie geht es dir?“ und essenzielle Begriffe, wie „Messer“, „Gabel“, „Löffel“ und „Serviette“). Die Gruppe ist in den vergangenen Tagen eng zusammengewachsen und hat ihre eigene Dynamik entwickelt, die Gespräche beim Essen werden ausgelassener. Auch die Hündin unseres Wirtes besucht uns jetzt manchmal in der Schule.

Am Abend sorgen wir für große Aufregung auf dem Dorfplatz, als wir mit bunter Kreide Werbung für die morgige Aufführung auf die Straße malen. Die ansässigen Kinder beginnen zu raten, was wir gerade schreiben. Das Resultat ist ein sehr bunter Hinweis auf unsere Anwesenheit in der Stadt.

Donnerstag

thumb image021Der Tag der großen Aufführung! Der Donnerstag ist gezeichnet von der Generalprobe, die in einer Affenhitze stattfindet. Es handelt sich bei der Präsentation um eine Wanderaufführung, also um ein Stück, das an mehreren Orten stattfindet. Wir nehmen die Anwohner*innen Plesnás mit auf eine Reise durch ihre eigene Stadt, so wie wir sie in der vergangenen Woche erlebt haben. Dazu müssen wir allerdings weite Strecken durch die pralle Sonne laufen. Dank guter Vorkehrungen haben wir nur geringe Verluste zu verzeichnen (nur eine Person holt sich einen Sonnenstich). Es herrscht höchste Konzentration. Abends ist es soweit und ein Grüppchen neugieriger Anwohner*innen (und Hunde) findet sich am vereinbarten Treffpunkt, dem Kreisel ein. In etwa eineinhalb Stunden führen wir sie nun eben durch die Stadt, von Fabrik zu Fabrik.

Am Ende bleiben alle Zuschauer*innen noch für ein Nachgespräch und erzählen uns, wie sie ihre Stadt wahrnehmen. Plesná hat viele Schläge erleiden müssen, in den vergangenen Jahrzehnten, seit die Industrie verschwunden ist. In der Nähe gibt es auch keine Universität, also wandern die jungen Leute alle ab. Das Leben kehrt aber zurück in die Stadt, so eine Anwohnerin. Davon werden wir aber vorerst nichts mitbekommen, denn heute ist unser letzter Tag in Plesná. Am Abend feiern wir unsere geglückte Aufführung.

Freitag

Es wird Zeit, Abschied von der Stadt zu nehmen. Ein letztes Mal essen bei Kuba, ein letztes Mal das Gebell der drei(!) Nachbarshunde hören und ein letztes Mal durch die etwas buckeligen Straßen der Stadt laufen. Einen letzten Text schreiben wir noch, einen Text, der reflektieren soll, wie wir die Woche, den Ort wahrgenommen haben. Diese Texte könnt ihr hier auf der Čojč-companion-Seite finden. Der Abschied von der Gruppe fällt schwer, aber immerhin haben wir noch die Zugfahrt. Also stellen wir uns ein letztes Mal auf „so etwas ähnliches wie einen Bahnsteig“ und sagen „Auf Wiedersehen“ zu Plesná: Ahoj!

Autor: Jakob Grundherr

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